CME-Fortbildung aus CHAZ 6/2023

Detlef Rosenow, Hartmut Friedburg, Charlotte Flüh

Läsionen neuronaler Strukturen im Bereich des Handgelenkes

Aufgrund vollkommen unterschiedlicher biomechanischer Anforderungen unterscheiden sich Fußgelenke und das Handgelenk erheblich voneinander. In einem früheren Beitrag wurde bereits auf die Unterschiede in den Gelenkketten der oberen und unteren Extremitäten eingegangen [30, S. 351]. Weist der Fuß im oberen Sprunggelenk eine Extensionsbeweglichkeit von 20 bis 30 Grad auf und im unteren Sprunggelenk eine Flexionsbeweglichkeit von etwa 30 bis 50 Grad [9, 18], so beträgt der Bewegungsrahmen des Handgelenkes für Extension und Flexion jeweils etwa 85 Grad sowie für Ulnarabduktion etwa 40 Grad und für die Radialabduktion etwa 15 Grad [17].
Die Fußwurzelgelenke sind funktionell Scharniergelenke mit einem Freiheitsgrad, da der Fuß vor allem der Standsicherheit dient. Die Hand stellt hingegen ein Feinwerkzeug dar, das sich vollkommen anders entwickelt hat als der Fuß. Das Handgelenk besteht aus einem proximalen Handgelenk (Articulatio radiocarpalis) zwischen dem distalen Radiusende und der proximalen Handwurzelknochenreihe und einem distalen Handgelenk (Articulatio mediocarpea) zwischen proximaler und distaler Handwurzelknochenreihe. Funktionell ist das proximale Handgelenk ein Ellipsoidgelenk mit zwei Freiheitsgraden (Handflexion und -extension sowie Ulnarabduktion und Radialabduktion) und das distale Handgelenk ein verzahntes Scharniergelenk (weil die beiden Viererreihen der proximalen und distalen Handwurzelknochen ineinandergreifen) mit einem Freiheitsgrad (dorsopalmare Bewegungsebene) [2].
Die Summe der genannten drei Freiheitsgrade des proximalen und distalen Handgelenks bildet die Zirkumduktionsbewegung. Es handelt sich also um einen Bewegungsablauf um beide Achsen des Handgelenkes, der bei größtmöglicher Zirkumduktionsamplitude einen Kegel beschreibt, den sogenannten Zirkumduktionskegel [17]. Die Fähigkeit zur Ausführung eines derartigen Bewegungsablaufes zeigt bereits, welche biomechanischen Stressfaktoren auf die peripheren in diesem anatomischen Abschnitt zur Anwendung kommen: Druck, Dehnung, Scherung/Torsion, sowie Reibung/Friktion.

Welche handgelenksnahen Nervenengpassstellen gibt es

  • Nervus medianus (Karpaltunnel)
  • Nervus ulnaris (Lôge de Guyon)
  • Ramus superficialis n. radialis (Cheiralgia paraesthetica, ligamentäre Reizung des Nerven an der distalen Sehne des M. brachioradialis)

Von diesen Nerven ist der N. medianus im Bereich des Karpaltunnels mit Abstand am häufigsten von Läsionen/Kompressionen betroffen.

Abbildung 1_Oben angedeutet der Verlauf des Nervus medianus etwa in der Mittellinie des Vorderarmes, weshalb der Nerv seinen Namen bekommen hat: „Mittelnerv“ [38, S.169].

N. medianus – Kompression vor und im Bereich des Karpaltunnels: Eine umfassende geschichtliche Beschreibung zum Thema „Karpaltunnelsyndrom“ findet sich bei Arnaldo Benini (*1938) in seiner Habilitationsschrift „Das Karpaltunnelsyndrom und die übrigen Kompressionssyndrome des Nervus medianus“ [4]. Die Erstbeschreibung einer Medianuskompression nach einer alten distalen Radiusfraktur mit vermutlich Pseudarthrose in loco typico in Höhe des proximalen Karpaltunnels mit schweren trophischen Störungen der ersten Finger der betroffenen Hand erfolgte durch James Paget (1814–1899) im Jahr 1854 [4, 25], wohingegen in Deutschland der Bonner Neurologe und Internist Friedrich Schultze als Erstbeschreiber sowohl eines Karpaltunnelsyndroms (KTS) als auch bei einigen der von ihm beschriebenen Kasuistiken in Kombination mit einem Sulcus-ulnaris-Syndrom, die er Akroparästhesien nannte [33]. In den Jahrzehnten danach haben Kliniker verschiedener Länder versucht, die typischen Symptome des KTS zu erklären, wobei die Erstbeschreibung des klinischen Gesamtbildes von Pierre Marie (1853–1940) und Charles Foix (1882–1927), beide im Hôpital Salpêtrière tätig, im Jahre 1913 erfolgte. Sie erkannten das Ligamentum carpi transversum (LCT) als hauptursächlich für die Beschwerden und stellten fest, dass die beobachteten klinischen Folgen eines KTS durch Spaltung des LCT behoben werden können (frz. „…rôle du ligament annulaire antérieur du carpe“ [4]. Marie und Foix hatten bei einer 80-jährigen Patientin, die kurz nach Einlieferung ins Spital an den Folgen einer Enzephalomalazie verstorben war, beobachtet, dass sie beidseits ausgeprägte Atrophien der Daumenballen aufwies. Bei der Autopsie fand man eine knotige Verdickung („un renflement nodulaire“) beider Nn. mediani am Eintritt der Nerven in den Karpaltunnel. Jenseits des Austritts der Mediani fand man eine ausgeprägte Volumenminderung der Nerven („le nerf diminue brusquement de volume“). Histologisch wurde eine „hyperproduction énorme de tissue conjunctif“ im Sinne eines Neuroms gefunden und man stellte die Frage, ob bei einer frühzeitigen Diagnose die therapeutische Durchtrennung des Ringbandes genügt hätte, um die Entwicklung des Phänomens zum Stehen zu bringen („la section thérapeutique du ligament annulaire suffirait-elle à arrêter l´évolution des phénomènes“).
Der schottische Chirurg und Neurochirurg James Learmonth (1895–1967) hat erst 1930 die Empfehlung Maries aufgegriffen und an der Mayo Clinic in Rochester MN bei Alfred Adson (1887–1951), eine 71-jährige Patientin im Rahmen einer Akromegalie an einem Karpaltunnelsyndrom operiert, woraufhin sich sukzessive alle sensiblen, motorischen und vegetativen Symptome auflösten. Zwischen 1945 und 1966 wurden etliche kleinere und größere Serien von Patienten mit KTS operiert, wobei der amerikanische orthopädische Chirurg George Phalen (1911–1998) 1966 die Ergebnisse einer ersten großen Serie von 654 zwischen 1949 und 1966 operierten Patientinnen/Patienten mit KTS vorlegte. Die isolierten Störungen im distalen Medianusbereich wurden ab Mitte der 1940er Jahre von angloamerikanischen Autoren unter dem Eponym „Carpal tunnel syndrome“ zusammengefasst [31].

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